Oft erlebe ich, dass der Name Gewaltfreie Kommunikation bei Menschen einen Widerstand auslöst. Sie sagen: „Aber ich bin doch nicht gewaltvoll – selbst wenn ich mal ein Urteil spreche.“ Gewalt verstehen wir vor allem körperlich – als etwas Schreckliches, mit dem wir selbst nichts zu tun haben (wollen). Verständlich, bei all dem Schmerz, den wir zum Beispiel durch Kriege wahrnehmen. Zudem entsteht durch den Namen die Gefahr, dass wir andere Menschen verurteilen, die keine Gewaltfreie Kommunikation anwenden.
Der Name Gewaltfreie Kommunikation kann also dazu führen, dass wir uns selbst verurteilen, wenn wir auf eine Weise sprechen, die die GFK als „Wolfssprache“ bezeichnen würde. Er kann aber auch dazu führen, dass wir uns von anderen distanzieren, die diese Sprache (noch) nicht benutzen. In beiden Fällen führt der Name Gewaltfreie Kommunikation zu Trennung – und genau das wollen wir ja gerade nicht. Die Gewaltfreie Kommunikation wenden wir schließlich an, weil wir uns nach Verbindung sehnen.
All das hat in mir ausgelöst, mir genauer anzuschauen, warum Marshall Rosenberg sich für diesen Namen entschieden hat.
In seinem Buch Nonviolent Communication: A Language of Life schreibt er im Vorwort:
„I call this approach Nonviolent Communication, using the term nonviolence as Gandhi used it – to refer to our natural state of compassion when violence has subsided from the heart.“
Marshall Rosenberg bezieht sich also auf Mahatma Gandhi. Gandhi wiederum bezieht sich auf den Sanskrit-Begriff Ahimsa.
Ahimsa bedeutet wörtlich „Nicht-Verletzen“. Es geht dabei nicht nur darum, keine gewaltvollen Handlungen zu tun, sondern darum, dass das eigene Herz, das eigene Wesen, frei wird von der Tendenz zu verletzen. Der Begriff ist sehr alt; er findet sich bereits in den frühesten indischen Texten, den Upanishaden (ca. 8.–6. Jh. v. Chr.). Im Hinduismus ist Ahimsa eine der höchsten Tugenden.
Im Yoga (Patanjali, Yoga Sutra II.30) steht Ahimsa an erster Stelle der fünf Yamas – der ethischen Grundlagen des Yoga.
Gandhi wiederum verstand Ahimsa mit seinem Ansatz Satyagraha („Festhalten an der Wahrheit“) als ein Lebensprinzip, das selbst im politischen Aktivismus zum Ausdruck kommen sollte.
Indem Marshall Rosenberg sich auf diese Wurzel bezieht, knüpft er an uralte Weisheiten an. Er spricht von unserem „natural state of compassion“ – unserem natürlichen Zustand von Mitgefühl. Im Non-Dualismus der vedantischen Weltsicht geht es darum zu erkennen, dass wir in unserer Essenz (Atman) identisch mit dem universellen Bewusstsein (Brahman) sind.
In dieser Essenz sind wir im natürlichen Zustand der Liebe und des Mitgefühls – und somit auch in Ahimsa, also gewaltfrei.
Doch solange wir diese Essenz nicht als unsere Identität begriffen haben, sind in uns Tendenzen, die in Gedanken und vielleicht auch in Worten zu Gewalt führen.
Dieser Bezug von Marshall Rosenberg auf Ahimsa kann uns insofern helfen zu verstehen, dass der Weg der Gewaltfreien Kommunikation ein Prozess ist. Wir gelangen nicht dadurch, dass wir uns eine Zeit lang mit der Gewaltfreien Kommunikation beschäftigen und sie anwenden, in einen finalen Zustand der Gewaltfreiheit, in dem es dann sinnvoll wäre, andere zu verurteilen, die Worte anders verwenden als wir. Nein. Stattdessen sind wir alle in einem Prozess.
Und dieser Prozess geht vor allem darum, uns bewusst zu werden, wo wir werten und angreifen. Es geht um ein inneres Streben.
In diesem inneren Streben gibt es vielleicht auch Teile, die sich so sehr nach dem Zustand der Gewaltfreiheit sehnen, dass sie verletzende Anteile unterdrücken wollen – und für die es sich gut anfühlt, den Eindruck zu haben, schon angekommen zu sein.
Diesen Anteilen können wir uns im Prozess des Bewusstwerdens liebevoll zuwenden – und sie transformieren.
Durch die Beschäftigung mit dem Begriff Gewaltfreiheit bzw Ahimsa verspüre ich trotz der Tücken die dieser Name mit sich bringt, Dankbarkeit für Marshall Rosenberg, dafür dass er uns diesen herausfordernden Namen zutraut, um die Haltung und Methode mit einer langen Tradition tiefer Weisheit zu verbinden. Und dass der Name uns zu verstehen gibt, dass wir uns mit der Gewaltfreien Kommunikation auf eine lebenslange Reise begeben können.
Trotz alledem sollten wir einen Weg finden, wie dieser Name uns nicht dazu verleitet, anderen und uns Vorwürfe zu machen.
